Unsere Aufgabe ist es, den ganzen Menschen wahrzunehmen

Genau 70 Lebensjahre liegen zwischen der 31-jährigen Gloria Schneider aus Lichtenberg und dem 101-jährigen Alfred Silber aus Linz. Ihre Wege kreuzten sich vor einem Jahr im Caritas-Seniorenwohnhaus Karl Borromäus in Linz, wo die Sozialbetreuerin ihrem Beruf seit 12 Jahren mit großer Leidenschaft nachgeht: „Die Arbeit ist auch persönlich eine Bereicherung. Es ist beeindruckend und spannend, wenn alte Menschen, so wie Herr Silber, aus ihrem Leben erzählen.“

Schon als Volksschulkind begleitete Gloria Schneider ihre Tante oft, die in einem Altersheim arbeitete. Sie las den Bewohner*innen gerne vor oder sang mit ihnen: „Die Arbeit mit alten Menschen hat mich schon immer angesprochen, man kann so viel von ihnen lernen, zum Beispiel, dass man sich bewusst Zeit für ein paar Minuten Ruhe nimmt. Gerade in der heutigen Zeit, die so hektisch und getrieben ist.“
Gloria Schneider ist seit 12 Jahren im Caritas-Seniorenwohnhaus: „Und ich liebe den Job immer noch. Die Arbeit ist einfach bereichernd und macht Spaß.“

Spannende Biographie

Die Lichtenbergerin und ihre Kolleg*innen unterstützen die Bewohner*innen bei den Dingen, die alleine nicht mehr gehen. Dabei unterhalten sie sich viel: „Die Biographie unserer Bewohner*innen interessiert mich immer. Bei Herrn Silber ist sie besonders spannend.“ Kurz nach der Kriegsmatura, Fachrichtung Maschinenbau, erhielt der 101-Jährige die Einberufung zu den Panzerjägern. Am 29. Juli betrat er bei Tripolis erstmals afrikanischen Boden. Nach einer schweren Verwundung durch eine Granate wurde er Kraftfahrer in Afrika. Nach der Kapitulation des Deutschen Afrikakorps 1943 geriet er in englische Gefangenschaft: „Es begann eine 6-wöchige Hungerszeit – sowohl für die Gefangenen, als auch für die Bewacher. Dann wurden wir den Amerikanern übergeben.“ Er landete schließlich in New Mexico bei der  Baumwollernte. „Weil man aus Baumwolle mit Salpetersäure auch Schießbaumwolle herstellen kann, streikten wir. Nach acht Tagen Arrest wurden wir Rädelsführer nach Main in ein Holzfällercamp verlegt, wo ich Holzfäller, Schulungsleiter, Camp-Elektriker und Filmvorführer war.“ Im Mai 1946 konnte er die Heimreise antreten und inskribierte an der TU Wien. Sein Vater war inzwischen Direktor im Stahlbau der ehemaligen Hermann Göring Werke in Linz geworden. Bei einer Firmenweihnachtsfeier, bei der er seinen Vater begleiten musste, lernte er seine künftige Frau kennen: „Ich forderte Eleonore zum Tanzen auf und ließ sie nicht mehr los. Ich war mir nicht sicher, wer wen beim Tanzen führte. Und dieses Gefühl blieb unser ganzes restliches Leben - auch abseits der Tanzfläche.“ Die beiden heirateten und bekamen zwei Kinder. Beruflich baute Alfred Silber in der VOEST eine Forschungsabteilung auf. „Begonnen hatte ich als Ein-Mannbetrieb, bei meiner Pensionierung 30 Jahre später hatte ich 120 Mitarbeiter“. Für seine Leistung wurde ihm das Goldene Ingenieurdiplom verliehen.

Freude und Trauer liegen dicht beieinander

Im September 2021 zog Alfred Silbers Frau ins Caritas-Seniorenwohnhaus in Linz ein. Er selbst folgte ein paar Monate später. Leider verstarb seine Frau kurz nach seinem Einzug. Caritas-Mitarbeiterin Gloria Schneider weiß, dass Freude und Trauer in ihrem Beruf oft dicht beieinander liegen: „Unsere Aufgabe als Sozialbetreuer*innen ist, nicht nur für das körperliche Wohlergehen zu sorgen, sondern immer den ganzen Menschen mit Körper, Geist und Seele wahrzunehmen. Die Trauer um seine geliebte Frau konnten und können wir nicht abnehmen. Aber wir können mitfühlen, zuhören, da sein.“