Unbezahlt und unbezahlbar?

Freiwilligenarbeit zwischen solidarischem Engagement und wohlfahrtsstaatlichen Pflichten
 

Im Rahmen des ksœ-Podcasts "361° Sozialkompass"  – der Katholische Sozialakademie Österreich, wurde ein Interview mit Univ.-Prof. Dr. Ruth Simsa von der WU Wien über Freiwilligenarbeit zwischen sozialem Engagement Einzelner und den Pflichten des Sozialstaates geführt. Im Fokus der Folge stand sowohl die gesellschaftsintegrierende Rolle der Freiwilligenarbeit als auch die Frage, ob freiwillige Arbeit wirklich unbezahlbar ist und ob sie immer "gute Arbeit" ist. Dieses Interview ist eine gekürzte und bearbeitete Version eines Gesprächs.

Das Interview

Freiwilligenarbeit stellt einen zentralen Aspekt unseres Gemeinschaftslebens dar – sei es in der Freiwilligen Feuerwehr, im Musikverein oder in der sozialen Arbeit. Ohne sie würde unsere Gesellschaft wohl nicht funktionieren, denn Freiwillige übernehmen nicht selten Tätigkeiten, die auch der Sozialstaat leisten könnte. Frau Simsa, Sie sind empirische Sozialforscherin, wie erforscht man eigentlich so etwas wie Freiwilligenarbeit?

Ruth Simsa: Das ist schon zu Beginn keine ganz leichte Frage. Grundsätzlich unterscheiden wir zwischen quantitativen Ansätzen und qualitativen Ansätzen. Quantitativ forscht beispielsweise das Sozialministerium regelmäßig zur Freiwilligenarbeit und erstellt u.a. Statistiken dazu. Meine eigene Arbeit ist eher qualitativ, das heißt, ich führe Interviews, mache Beobachtungen und Gruppendiskussionen. Das ist ein guter Rahmen, um Einstellungen und Beweggründe zur Freiwilligenarbeit herauszufinden: Warum macht jemand etwas? Was bringt es dieser Person persönlich und was ist das, was sie daran glücklich macht? Dabei treffen wir auch gleich auf eine lange Diskussion in der Freiwilligenforschung: Ist Ehrenamt eigentlich altruistisch? Also, macht man es für den anderen oder ist es eigentlich auch egoistisch, weil es ja Freude macht, zu helfen. Im Endeffekt ist diese Frage aber wahrscheinlich gar nicht so zentral – idealerweise hilft es beiden.

Welche konkreten Beweggründe werden Ihnen in Gesprächen mit Freiwilligen genannt? In kirchlichen Bereichen passiert ja beispielsweise auch viel Freiwilligenarbeit, schlägt sich das in irgendeiner Form auch in Ihren Interviews nieder?

Ruth Simsa: Ich frage meist sehr allgemein, zum Beispiel: Was sind denn Ihre Motive? Der Bezug auf Religion ist dabei nicht das, was ich als Erstes gehört habe, häufig war es eher: „Mir geht es gut und ich möchte etwas weitergeben“, oder: „Mir wurde geholfen. Ich möchte auch helfen.“ Oft wird auch der Bezug zur Familie hergestellt, dass es dort immer schon normal war, sich freiwillig zu engagieren. In Bezug darauf vermute ich, dass das in vielen Familien auch religiös begründet sein könnte. Man lernt eine bestimmte Haltung, die man als Normalität kennenlernt, und die kann bestimmt auch religiösen Ursprung haben. Aber wohl gerade, weil es als ganz normal wahrgenommen wird, habe ich das relativ selten gehört. In anderen Religionen als dem Christentum ist das auch erforscht: Unter Muslimen ist es ja eine religiöse Pflicht, etwas zu geben, zu spenden. Da wird es expliziter auf die Religion zurückgeführt, weil es eine explizite Anforderung seitens der Religion gibt. Im Christentum kann man aus Grundsätzen wie beispielsweise „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ableiten, dass es gut ist, anderen zu helfen, aber das ist indirekter und daher wahrscheinlich oft nicht ganz so bewusst.

Wenn wir uns von der Einzelperson und ihren Motivationen zum gesellschaftlichen Gesamtbild bewegen: Welche Entwicklungen lassen sich festmachen, inwiefern verändert sich Freiwilligenarbeit – auch im Kontext der sozialstaatlichen Versorgung?

Ruth Simsa: Es gibt einerseits natürlich langfristige Entwicklungen, wie die Veränderung der Freiwilligenarbeit durch Digitalisierung und Individualisierung. Andererseits haben akute und besondere Situationen auch einen großen Einfluss auf Freiwilligenarbeit. Zum Beispiel im Rahmen der Flüchtlingsbewegung 2015 war es aus meiner Sicht wirklich spannend zu beobachten, wie viele Leute auf Bahnhöfe gegangen sind, Leute zu sich nach Hause geholt haben, bei der Caritas Kleidung sortiert haben etc. Diese große gemeinschaftliche Initiative hat allerdings sowohl positive wie auch negative Aspekte und viel mit der Verzahnung von Freiwilligenarbeit und den Pflichten des Sozialstaats zu tun. Auf der einen Seite war es, wie gesagt, faszinierend, dass so viele Menschen gesagt haben: „Ich kann jetzt endlich was zurückgeben. Meine Großeltern sind geflüchtet und mir geht es gut. Ich möchte helfen, ich möchte was beitragen.“ Es gab, wie Sie sicher wissen, sehr vielschichtige Hilfsangebote, wo von der Zivilgesellschaft oder auch im Rahmen von Non-Profit-Organisationen wahnsinnig viel Tolles geleistet wurde. Das war ein besonderer Zeitpunkt, wo formelle Freiwilligenarbeit, organisiert durch NGOs, und informelle Freiwilligenarbeit, also Leute, die einfach zum Bahnhof gefahren sind, um zu helfen, zusammengespielt haben. Der negative Aspekt daran ist, dass Menschen Arbeit gemacht haben, die eigentlich eine Aufgabe des Staates gewesen wäre. Denn auf der einen Seite ist es ja wahnsinnig schön, dass Leute etwas für andere, für das Gemeinwohl und für die Gesellschaft machen. Einfach aus dem Gedanken heraus: „Ich mache eine Arbeit, weil ich sie für wichtig halte oder weil andere oder die Gesellschaft es brauchen.“ Auf der anderen Seite ist es allerdings schon auch wichtig, zur fragen: Wofür bezahlen wir als Gesellschaft Geld und wofür nicht? Muss – um auch andere Beispiele als die Flüchtlingshilfe zu nennen – das Besuchen von alten Menschen oder das Lernen mit Migrantenkindern von Privatpersonen, die ein großes Herz haben, gratis gemacht werden oder leisten wir uns, das zu bezahlen? Das ist eine durchaus zweischneidige Sache.

Freiwillige bei der Caritas OÖ

Inwiefern lässt sich die Situation im Jahr 2015 auch auf aktuelle Entwicklungen umlegen?

Ruth Simsa: Die letzten Jahre waren in Bezug auf Freiwilligenarbeit besonders interessant, wenn wir beispielsweise an Covid denken. Zur Zeit der Lockdowns waren viele Ehrenämter natürlich schwieriger, etwa im Rahmen von Vereinen: Fußballtraining war nicht möglich, Nachmittagsbetreuung von Kindern, Kulturveranstaltungen; sehr viele Dinge, wo viel freiwillig gearbeitet wird, waren unmöglich. Gleichzeitig ist die Nachbarschaftshilfe angestiegen, viele Menschen sind zum Beispiel für ältere Bekannte oder Nachbarn einkaufen gegangen. Und auch das Thema der Flüchtlingshilfe ist uns zwar aus 2015 als besondere Situation in Erinnerung, aber eigentlich auch eine zyklische Sache. 2022, im Kontext des Ukrainekrieges, war wieder sehr viel Flüchtlingsbetreuung in der Hand von Privatpersonen, was wiederum die Kritik hervorgerufen hat: „Das sollte nicht in diesem Umfang unsere Aufgabe sein.“ In solchen Situationen stellt sich sowohl für Freiwillige als auch für Forschende schnell die Frage: Was ist die Aufgabe des Staates? Das ist ja eine politische Frage oder eine Frage der Haltung. Meine eigene Haltung dazu ist: Sozialstaatliche Aufgaben sollten im Wesentlichen auch vom Sozialstaat gemacht werden oder von den Gemeinden, jedenfalls von der öffentlichen Hand. Und das Zusätzliche, das, was ein Staat nicht machen kann, weil es zu vielfältig ist, zu kleinräumig, oder weil es niederschwelliger sein soll, dafür ist Freiwilligenarbeit sinnvoll und kann noch unglaublich viel beitragen. Wenn ich noch einen Satz zur langfristigen Entwicklung sagen darf: Hier ist der Trend ungebrochen in Richtung projektförmiger Arbeit. Freiwilligenarbeit wird momentaner und unsteter. Zwar sind die Zahlen der Freiwilligen relativ gleichbleibend – knapp 50% der Menschen leisten Freiwilligenarbeit –, aber früher war sie für die einzelnen Personen längerfristiger: Da war der Vater ein Leben lang beim Roten Kreuz oder, wie bei mir selbst, die ganze Familie über Jahrzehnte im Turnverein. Das gibt es in dieser Form nicht mehr so stark, Personen sagen sich eher: „Ich mache da einmal bei einem Projekt mit und dann dort vielleicht in der Flüchtlingshilfe, dann wieder ganz was anderes...“

Sie haben gesagt, für sozialstaatliche Aufgaben sollte die öffentliche Hand zuständig sein, könnten Sie das genauer erklären?

Ruth Simsa: Ja, aus meiner Sicht betrifft das alles, was mit sozialer Daseinsvorsorge und Infrastruktur zu tun hat, also von Verkehr über Bildung bis zum Gesundheitssystem sowie soziale Daseinsvorsorge. Wenn wir es wieder an unserem Beispiel der Flüchtlingshilfe festmachen, kann man sagen, es gibt eine Pflicht, Flüchtlinge aufzunehmen und zu versorgen. Das ist Aufgabe des Staates. Wenn diese Flüchtlinge ein Dach über den Kopf haben, kann die Zivilgesellschaft in Form von Freiwilligen das optimal unterstützen, indem sie z.B. mit den Kindern Fußball spielt, beim Lernen hilft etc. Diese kleinräumige Hilfe, also zu sagen: „Ich kümmere mich um diese ganz spezielle Person - den einen Buben aus der Nachbarschaft, der am Nachmittag alleine ist und gern Fußball spielt“, das ist ideal für das Ehrenamt. Aber dass diese Person Essen hat und ein Dach über dem Kopf, das ist Aufgabe des Staates und es darf nicht dem Können und Wollen von dazu nicht ausgebildeten Menschen überlassen werden; auch weil eine Kontinuität gesichert werden muss, die über Freiwilligenarbeit schwer zu leisten ist.

Lässt sich empirisch nachweisen, dass der Staat sich aus gewissen Bereichen der Daseinsvorsorge zurückgezogen hat? Oder sind vielleicht eher die Aufgaben so gewachsen, dass der Staat dem nicht mehr nachkommen kann?

Ruth Simsa: Das Zurückziehen des Staats lässt sich durchaus beobachten. Wenn wir beispielsweise an die 90er Jahre denken, zur Zeit des Jugoslawien-Kriegs kamen auch sehr viele Flüchtlinge nach Wien. Ich habe in Wien gelebt zu der Zeit, diese Flüchtlingsbewegung hat man in der Stadt fast nicht bemerkt. Wenn ich das jetzt zum Teil auch anekdotisch beantworten darf: Man hat von ein paar Privatpersonen gehört, die jemanden aufgenommen haben oder ein Patenkind hatten. Aber im Wesentlichen ist die Erstversorgung fast unbemerkt passiert, es wurde z.B. in Spitzenzeiten die Messehalle für die Erstversorgung zur Verfügung gestellt. Im Gegensatz dazu gab es 2015/16 große Aufregungen, Bahnhöfe waren völlig überfüllt und Freiwillige mussten im Ernst-Happel-Stadion über Wochen hin ein Aufnahmezentrum betreiben. Das wurde auch von den Freiwilligen selbst kritisiert, die gesagt haben, mehr im Stich lassen als der Staat uns im Stich lasst, kann man die Zivilgesellschaft nicht. Diese ehrenamtliche Versorgung war völlig von Spenden abhängig. Wenn dort an einem Tag nichts vorbeigebracht worden wäre, hätte es einfach nichts gegeben. In unseren Breiten kann man daher sagen, der Staat hat sich nachweislich in dem Gebiet zurückgezogen.

Es gibt Stimmen, die ein verpflichtendes soziales Jahr für Jugendliche fordern, beispielsweise anstatt des Zivildienstes und auch für Frauen. Sehen Sie diese Forderung als mögliche Lösung?

Ruth Simsa: Sie fragen mich jetzt auch natürlich auch als Frau und deshalb möchte ich betonen: Solange die Reproduktion, also die private Arbeit, die Kindererziehung, Hausarbeit und so weiter, nicht auch entsprechend aufgeteilt ist, die beruflichen Chancen von Frauen nicht entsprechend sind wie die der Männer und sich das nicht in Statistiken niederschlägt, würde ich Frauen dazu nicht verpflichten. Es machen ja sehr viele Frauen sehr viel Freiwilligenarbeit, genauso viel wie die Männer. Verpflichten würde ich sie nicht.

Kann man vor dem Hintergrund Ihrer Forschung auch eine Prognose wagen, wie es mit Freiwilligenarbeit weitergeht?

Ruth Simsa: Wie vorhin angesprochen, glaube ich, dass Freiwilligenarbeit noch ein Stück instabiler, flexibler und projektförmiger wird. Auch die Digitalisierung hat zu neuen Formen der Freiwilligenarbeit geführt, zum Beispiel Internet-Aktivismus in verschiedensten Formen, aber auch eine andere Organisation der Freiwilligenarbeit und neue Möglichkeiten des Angebots von Bildung. Möglicherweise gibt es auch eine generelle Tendenz weg von freiwilligen Dienstleistungen hin zu freiwilligen Bildungsangeboten und Aktivismus, wenn man beispielsweise an Umweltbildung denk, wo Aktivist*innen sehr viel an Aufklärungsarbeit leisten. Wir leben in einer Zeit, in der sich gesellschaftliche Konflikte, wie die Schere zwischen Arm und Reich und das Klimathema, massiv verschärfen und daher glaube ich, dass dieser Aktivismus in Form von unbezahlter politischer Arbeit eher mehr werden wird. Die ethische Frage, wo will ich Menschen schützen und mache ich das „nur“, wenn ich dafür bezahlt werde oder auch in meiner Freizeit, ist für viele – gerade in der jungen Generation – enorm wichtig.

Der Podcast kann hier zur Gänze nachgehört werden.
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Univ.-Prof. Dr. Ruth Simsa ist Ökonomin und Soziologin am Institut für Allgemeine Soziologie und Empirische Sozialforschung an der WU Wien. Sie war langjährige wissenschaftliche Leiterin des Kompetenzzentrums für Non Profit Organisationen an der WU Wien. Sie ist u.a. Mitherausgeberin des Handbuchs NPO Management für Non Profit Organisationen, das heuer in der siebten Auflage erschienen ist. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Zivilgesellschaft und Non Profit Organisationen