Armut aus der Tabuzone holen

Kommentar von Caritas-Direktor Franz Kehrer, MAS

Die gebürtige Linzerin Daniela Brodesser wagt seit ein paar Jahren etwas, das bereits dringend „Not tut“. Sie spricht offen darüber, wie ihre Familie in die Armut geraten ist und was sie dabei erlebt hat. Damit holt sie das Thema Armut aus der Tabuzone. Als Caritas erleben immer wieder, dass sich bei uns kaum Klient*innen dafür bereit erklären, sich von Medien zu Ihrer Lage interviewen zu lassen – und wenn, dann zumeist nur anonymisiert. Denn in der Öffentlichkeit wird Armut bzw. eine soziale Notsituation sehr oft mit persönlichem Versagen gleichgesetzt. Soziale Ausgrenzung ist die Folge.

Daran hat sich auch in der letzten Zeit kaum etwas geändert, obwohl zuvor durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie und aktuell durch die Teuerungen immer mehr Menschen aus dem Mittelstand in die Armut abgerutscht sind. Dadurch ist das Thema nun zwar medial mehr präsent, aber die Scham, vom „Makel Armut“ betroffen zu sein, ist dennoch nach wie vor groß. Viele Menschen versuchen so lange wie möglich, ihre Notlage vor ihrem Umfeld  zu verbergen. Zu groß ist die Angst, im Bekanntenkreis, in der Nachbarschaft, ebenso wie bei Behörden stigmatisiert und als „Versager“ behandelt zu werden. Leider ist diese Sorge sehr berechtigt, wie auch Daniela Brodesser am eigenen Leib erfahren haben.

Das gesellschaftliche Klima der Stigmatisierung von Armutsbetroffenen ist Gift für den sozialen Zusammenhalt. Und es vergrößert das Leid der Betroffenen, die ohnehin mit täglichen Existenzsorgen zu kämpfen haben. Der psychische Druck, der daraus erwächst, mündet nicht selten in psychische Erkrankungen. Ein Teufelskreis: denn dadurch wird es noch schwieriger, auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen und das eigene Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Wir dürfen es nicht zulassen, dass Menschen in Notsituationen ins soziale Abseits gestellt werden. Armut muss aus der Tabuzone geholt werden und mit nachhaltigen Maßnahmen auf vielen Ebenen daran gearbeitet werden, Armut zu verhindern. Und es muss außer Streit gestellt werden, dass soziale Leistungen wie die Sozialhilfe kein Gnadenakt sind, sondern Basis eines von Solidarität und Menschlichkeit getragenen Zusammenlebens.


 

Termin:

2.6. Lange Nacht der Kirche - Lesung Daniela Brodesser liest aus ihrem Buch Armut