Jürgen Stehrer verlor seine ganze Familie. Der Vater starb jung an Diabetes, der Bruder vor elf Jahren bei einem Arbeitsunfall. Auch die Mutter litt stark an Diabetes und verstarb vor fünf Jahren. Der heute 46-Jährige stillte den Schmerz mit Alkohol. Und stürzte in den Abgrund der Obdachlosigkeit. Jetzt geht es wieder aufwärts, mit der Begleitung im Hartlauerhof will er in ein neues Leben finden.
„Alkohol habe ich seit meiner Jugend getrunken. Es ist schlimmer geworden, währen die Mama noch gelebt hat. Weil ich gesehen habe, wie sie leiden muss. Ich habe alles weggeschwappt. Als es ihr noch gut gegangen ist, haben wir oft spontan etwas unternommen. Ich habe ihr zugerufen: ,Pack dich zusammen, wir fahren nach Salzburg! Einfach so!‘ Dann sind wir spontan am 1. Mai nach Salzburg gefahren. Nach der Knie-OP ist nichts mehr gegangen. Am Schluss hat sie nur mehr auf einem Auge gesehen. Da habe ich noch mehr getrunken. Und nach ihrem Tod noch mehr. Dann spürt man weniger.
Heute weiß ich: Das bringt nichts. Der Alkohol macht die Leute kaputt. Im Endeffekt kostet er dich das Leben. Schneller als man glaubt.
Beim Begräbnis habe ich mir richtig schwer getan. Ich musste alles alleine managen. Ich habe geschaut, dass ich nüchtern bleibe, wenn ich zum Bestatter fahre. Danach bin ich fortgegangen. Mit meinem Führerschein habe ich auch meinen Job als Taxilenker verloren. Ich wollte auch nicht mehr in der Wohnung bleiben. Ich habe meine Mama ja dort gefunden, tot am Boden liegen. Deshalb habe ich es auf eine Delogierung ankommen lassen.
Eine Entzugsbehandlung wollte ich schon früher machen. Dreimal bin ich zum Neuromed Campus gegangen – einmal mit 2,4 Promille, einmal mit 2,8 Promille und einmal mit 3,1 Promille. Sie haben mich gefragt, ob ich selbstmordgefährdet bin. War ich nicht. Ich war ihnen nicht akut genug. Nach dem Tod meiner Mama bekam ich einen Platz. Ich wollte den Entzug immer schaffen, während die Mama noch lebt. Damit sie noch ein bisschen was hat, auf das sie bei mir stolz sein kann.
Ich habe den Entzug beim ersten Mal geschafft. Viele beneiden mich um meine Willenskraft. Ich hatte dabei immer wieder zu kämpfen. Das geht ja nicht von heute auf morgen. Aber mir ist in den vier Jahren nur ein Ausrutscher passiert. Das waren drei Gespritzte. Manchmal habe ich mich in die Lokale gesetzt und meine ehemaligen Saufkumpane beobachtet. Ich habe mir gedacht: War ich damals auch so? Über Blödsinn lachen, der gar nicht lustig ist? Und ich wusste: Ja, genau so war ich auch.
Ich mache eine Therapie, um alles aufzuarbeiten. Geholfen hätte mir, wenn ich schon früher für den Entzug genommen worden wäre. Dann wäre das alles nicht passiert. Eine wirkliche Hilfe war die Sozialarbeiterin am Neuromed Campus. Sie hat vieles erledigt, das ich nicht geschafft habe. Ich war sogar mit der Rezeptgebühren-Befreiung nachlässig. Die Sozialarbeiterin hat sie mir rückwirkend beantragt.
Die größte Hürde ist für mich aber erst danach gekommen: Mit dem Ganzen umgehen zu lernen. Ich war es gewohnt, dass ich mit Alkohol alles wegschwappe, das mir nicht passt. Jetzt muss ich es schaffen, ohne Alkohol damit umzugehen. Wenn ich unterwegs bin, habe ich manchmal noch zu kämpfen. Dann denke ich mir: Mach dir das nicht kaputt. Du hast so viel geschafft.“
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